Kategorie: Geschichten,Maestro

Im Winterland

Gelassen lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und betrachtete den Tanz der Flammen im großen Kamin. In meiner Hand hielt ich ein Glas mit schottischen Whisky, in dem sich flackernd das Feuer brach und die dunkelbraune Färbung dieser erlesenen Medizin zur vollen Geltung brachte.

Ich atmete tief durch und begann endlich damit, meinen Aufenthalt im Hotel zu genießen. Vor einer Woche hatte ich, bei einem Schreibwettbewerb der Gemeinde Bad Hindelang und des Hotels „Prinz-Luitpold-Bad“, mit einer romantischen Geschichte über eine eindrucksvolle Winterwanderung durch die majestätische Bergwelt der allgäuer Alpen, der ersten Platz gewonnen. Es war keine außergewöhnliche oder besonders fantasievolle Geschichte gewesen. Nur ein bisschen Pathos über die Schönheit verschneiter Gipfel, die Ursprünglichkeit der naturbelassenen Landschaft, die Behaglichkeit wärmender Wollsocken und die Einzigartigkeit der allgäuer Gastfreundschaft. Das Ganze hatte ich noch mit ein paar netten Pointen und Anekdoten aus meiner Skifahrerzeit gewürzt. Das kam immer gut an. Dank meines unverwechselbaren Schreibstils hatte ich dann wenige Tage darauf eine E-mail erhalten, in der man mir zu meinem grandiosen Talent und dem Gewinn von 1001 Euro inklusive eines dreitägigen Wellnessaufenthaltes gratulierte.

Völlig aus dem Häuschen hüpfte ich damals ausgelassen durch meine Wohnung und führte einen meiner  eindrucksvollen Freudentänze auf.

Abgesehen davon, dass ich als aufstrebender und  bisher unveröffentlichter Schriftsteller sehr froh über das Geld war, bot sich mir auch noch die Möglichkeit, meine lange umschwärmte Traumfrau mit diesem Kurzurlaub zu beeindrucken.

Leider hatte sie sich von meinem, noch im euphorischen Freudentaumel erfolgten, Anruf nicht besonders beeindrucken lassen und mir erklärt, dass sie leider keine Zeit habe, da sie mit Jörg in die Karibik fliege. Das sei wesentlich zeitgemäßer und stylischer als ein Kurztrip ins hinlänglich bekannte Allgäu und abgesehen davon sollte ich es doch mal endlich mit einer ordentlichen Arbeit und einem geregelten Einkommen versuchen, ich müsste auch mal an meine Zukunft denken.

Ehe ich mich besinnen konnte, steckte ich mitten in einer Diskussion über die Bedeutung persönlicher Freiheit, den umweltschädigenden Aspekt von Flugreisen, insbesondere von Langstreckenflügen und über die Tatsache, dass die Größe von Jörgs Nase keinerlei Rückschlüsse auf seine Eignung zum Reisebegleiter zuließ. Die Auseinandersetzung endete mit der klaren Empfehlung, sie in Zukunft nicht mehr anzurufen und einem Abschlussdialog, auf dessen Höhepunkt ich das Besetztzeichen mit einem entschlossenen „…und Du mich auch!“, anschrie.

Auch meine 20 SMS, in denen ich sie anschließend um Verzeihung bat, hatten nicht den gewünschten Effekt erzielt und so hatte ich mich dazu entschlossen, meine Tage im Hotel alleine zu verbringen. Manchmal entwickeln wir Männer in Herzensangelegenheiten einen unerwarteten Stolz, den dann leider außer uns selbst niemand zu schätzen weiß.

So war ich also nach einem ausgiebigen Saunabesuch, einem erfrischenden Bad und einer entspannenden Massage vor dem italienischen Kamin gelandet und schluckte brav meine schottische Medizin. Das war doch international genug. Wer brauchte schon die Karibik?

Heute Abend würde ich die vereinbarte Lesung meines Textes halten. Leider passte er überhaupt nicht zum Wetter. Das verhielt sich nämlich, für Anfang Januar, gerade ausgesprochen karibisch. Zumindest wenn ich mich an die Bilder von wilden Regenschauern und Tropenstürmen erinnerte, die mir in den letzten Tagen so oft Trost gespendet hatten.

Von Schnee war weit und breit nichts zu sehen und ich fragte mich, ob ich bei dem Regenwetter vielleicht versuchen sollte, eines der  hier festsitzenden, wohlhabenden Schihaserl in den Wechseljahren für mich zu begeistern. Schließlich musste ich ja auch mal an meine Zukunft denken.

Während ich über eine vielversprechende Karriere als Gigolo sinnierte und mich damit anfreundete, auch noch meinen letzten Stolz über Bord zu werfen, verschwammen langsam die Flammen vor meinen Augen. Anscheinend taten Wellness und Whisky ihr Werk. Ein bisschen dösen erschien mir jetzt genau das Richtige, um mich auf die Lesung vorzubereiten.

Plötzlich schreckte ich auf. Lautes, dröhnendes Geheul riss mich aus meinem entspannten Zustand und ich richtete mich zügig auf. War das etwa der Feueralarm? Verstört blickte ich mich um. Was ich sah, war nicht gerade dazu geeignet, meine Verwirrung zu lindern. Direkt vor mir stand ein beeindruckend großer Schotte, der einen kräftigen grauen Vollbart trug, in perfekt sitzender Highlandtracht und spielte mit ohrenbetäubender Lautstärke auf einem Dudelsack.

„Was zur Hölle soll das?“, herrschte ich den Unbekannten an. „So sehr ich ihren Beitrag zur schottischen Kulturpflege auch begrüße, sie haben mich gerade ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen!“

Der Hühne im Kilt setzte den Dudelsack ab, der mit ein paar unschönen Röchelgeräuschen klagend verstummte.

„Arrrchhhh, Jungchen, das war schließlich meine Absicht. Hauptmann Filleböck war der Meinung, dass ich am besten dazu geeignet bin, dich aus deinen Träumen zu holen.“

Mit dieser Antwort konnte ich nun herzlich wenig anfangen. Ich brauchte mehr Informationen: „Äh, warum nun überhaupt, und wer ist Hauptmann Filleböck und wer sind sie?“

Der Highlander sah mich direkt an, ohne dabei  die geringste Emotion zu offenbaren. Sein stechender und forschender Blick beunruhigte mich, auch wenn ich nicht genau wusste weshalb.

„Das Meiste davon wird dir der Hauptmann gleich selbst erzählen, er müsste jeden Moment hier auftauchen. Er hat nur immer schrecklich viel zu tun. Ich selbst bin Malcom Mc Lanrich, war über vier Jahrhunderten Schlossgespenst auf Lanrich Castle und nun, dank widriger Umstände, die die Eigentümer dazu brachten, das Interieur zu verkaufen und das Schloss abzureißen,bin ich seit einigen Jahren in diesem Hotel im Allgäu heimisch.“

Diese Aussage klang nun selbst für einen Menschen mit meiner Fantasie ziemlich unglaubwürdig, aber irgendetwas in seinem Blick sagte mir, dass ich sie besser nicht in Frage stellen sollte. Ich versuchte es also mit etwas Smalltalk um meine Verstörtheit zu überspielen:

„Und wie gefällt es ihnen hier bei uns?“

„Naja, die Winter sind ganz nett, fast wie zu Hause, aber die Sommer finde ich furchtbar. Es ist viel zu heiß. Ständig scheint die Sonne und wenn es dann doch mal regnet, dann sind es nur ein paar dünne Tröpfchen. Ganz zu schweigen vom Nebel. Wenn er überhaupt mal aufzieht, dann ist er dünn wie Wassersuppe. Selbst den Gipfel vom Nebelhorn sieht man fast das halbe Jahr! Da wo ich herkomme, kann man sich den Nebel ins Porridge rühren! Aber ich will nicht klagen, zumindest ist es sehr viel unterhaltsamer als die letzten Jahre im Schloss. Hier ist ständig was los und du würdest nicht glauben, was die Leute in ihrem Urlaub so alles in den Hotelzimmern treiben. Da könnte ich dir Geschichten erzählen…“

„Zweifellos, werter Mc Lanrich, zweifellos, aber dafür haben wir leider im Moment überhaupt keine Zeit!“, unterbrach ihn eine spitze Stimme, die stark nach Schnurrbart klang.

Ich blickte mich um, konnte jedoch den Urheber dieser Worte nicht ausmachen.

„Hier unten, werter Freund. Trotz meiner ausdrucksstarken Stimme, bin ich nicht gerade groß gewachsen“, sprach man mich direkt an.

Ich sah zu Boden und erblickte ungefähr auf Kniehöhe des Dudelsackspielers eine seltsame Figur. Eine Pickelhaube saß auf einem Fuchskopf mit ausgeprägten Schnurrhaaren und einem lebendigen Glitzern in den Augen. Ein kleines Geweih ragte durch extra in den Helm gebohrte Löcher. Es folgte ein Entenkörper, der in einer Uniformjacke steckte, an deren Rückseite sich zwei Eulenflügel durch den Stoff schoben. Arme und Beine glichen Hasenpfoten, wobei die Vorderpfoten eindeutig Finger besaßen. An der linken Seite baumelte ein Säbel in angemessener Größe.

„Gestatten: Hauptman Cornelius Filleböck, erstes königlich bayerisches Wolpertingerregiment“, stellte sich der Neuankömmling vor und verbeugte sich elegant.

„Ok ok ok. Auszeit!“, rief ich und klopfte mit meiner flachen rechten Hand auf die aufgerichtete linke. „Jetzt versteh ich. Ihr gehört zum Animationsteam des Hotels. Also ich muss schon sagen, ihr macht euren Job wirklich gut. So ein ausgeklügeltes Unterhaltungsprogramm hätte ich hier wirklich nicht erwartet. Ich bin beeindruckt!“

Der Wolpertinger und der Schotte sahen sich an.

„Aye, ich hab dir doch gesagt, dass er es nicht  verstehen wird.“

„Aber er ist Schriftsteller. Er müsste doch wissen, dass es mehr als eine Realität gibt.“

„Müsste, sollte, hätte. Du weißt doch, wie die Menschen sind. Wenn sich herausstellt, dass ihre Träume mehr sind als bloße Hirngespinste, dann machen sie sich in die Hose und suchen schnellstmöglich nach einer Verdrängungsstrategie.“

Ich lachte auf. „Jetzt ist aber gut. Das Kostüm ist wirklich klasse und die Wolpertingerpuppe bewegt sich fantastisch. Wahrscheinlich ferngesteuert, denn ich sehe keine Schnüre. Aber die esoterisch angehauchte Tiefenpsychologie könnt ihr euch für jemand anderen aufsparen.“

„Wir haben wirklich keine Zeit, das jetzt feinfühlig zu erklären“, sagte der Wolpertinger und blickte auf eine Taschenuhr, die er an einer Kette aus seiner Brusttasche zog. „Ich bitte vielmals um Verzeihung für das, was nun geschieht, doch es hat sich als die schnellste und effektivste Methode erwiesen, um Personen im akuten Verdrängungszustand wieder in die Realität zu holen.“

Ich starrte ihn ungläubig an und gab ein äußerst eloquentes „Häh?“ zum Besten.

Im Anschluss daran geschahen zwei Dinge, die mich zutiefst beeindruckten. Es begann damit, dass die Gestalt von Malcom Mc Lanrich rapide an Substanz verlor, bis sie nur noch ein durchschimmerndes Abbild seiner Selbst zeigte. Daraufhin verdichtete sie sich wieder und er schritt ohne zu zögern durch die Holzverkleidung neben dem Kamin um kurz darauf wieder zurückzukehren. Anschließend, in genau dem Moment, als mir die Kinnlade nach unten klappte, spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner rechten Wade. Als ich nach unten blickte hing dort Hauptmann Filleböck, der seine Zähne fest um mein Bein geschlossen hatte und wild knurrte.

Er ließ abrupt los und verbeugte sich. „Nochmals Entschuldigung für unser rabiates Vorgehen, aber wir müssen los. Du hast nun gesehen, dass Mc Lanrich substanzlos ist und der Schmerz hat dich davon überzeugt, dass du nicht träumst. Der Schock wird dich dazu veranlassen uns jetzt zu begleiten und in einigen Minuten wird sich dein Gehirn damit einverstanden erklären, die Gegebenheiten zu akzeptieren.“ Nach dieser Ansprache verbeugte sich der Hauptmann nochmal und hüpfte dann eilig in Richtung Ausgang, während er hektisch vor sich hinmurmelte. Ich glaubte etwas wie „Zu spät, keine Zeit, keine Zeit…“ zu verstehen.

„Aye, jetzt komm mit, Jungchen!“, sagte der Schotte und trottete los

Vollkommen verdattert folgte ich den Beiden nach Draußen auf den Krolfplatz. Eine dicke Frau mit teurer Kleidung und rotem Kopf schleppte sich, vor sich hin schimpfend, in Richtung Hotel, schien uns jedoch nicht zu bemerken. Aus irgendeinem Grund erwartete ich, hier Flamingos und Igel anzutreffen, doch diese Vorstellung fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, als wir zwischen den einzelnen Krolflöchern hin und her irrten. Anscheinend suchte Cornelius etwas.

„Na endlich, hier ist es“, rief er nach einer Weile erfreut und zog die Fahne heraus. Ich sah sie mir genauer an. 9¾ stand darauf.

„Und nun nix wie rein da“, rief mir Mc Lanrich zu.

„In das Loch?“, fragte ich.

„Ja, natürlich in das Loch, wohin denn sonst?“

„Wie soll das denn gehen? Ich bin doch viel zu groß dafür.“

„Wenn man nicht weiterkommt, hindert einen gewöhnlich das Festhalten an alten Glaubensmustern und Denkstrukturen daran. Du musst einfach glauben, dass es klappt.“ Mit diesen Worten hüpfte der Wolpertinger in das Loch und verschwand in einem schwarzen Strudel.

Ohne mir groß den Kopf zu zerbrechen, folgte ich ihm einfach. Den Sprung ins Unbekannte hatte ich schon oft genug gewagt und wusste: Irgendwo kommt man schon wieder raus.

Mit einem kehligen Urlaut, wie ihn wohl nur Schotten und echte Allgäuer zustande bringen, folgte uns auch Malcom ins Abenteuer.

Um mich herum zerfloss Alles zu einem Wirbel aus Licht und Farben. Ich hatte das Gefühl, durch einen Tunnel gesaugt zu werden und gleichzeitig auf der Stelle stehen zu bleiben. Nicht gerade angenehm, aber ich hatte mich auch schon schlechter gefühlt. Zum Beispiel nach der letzten Sylvesterfeier…

Nach einigen Sekunden hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen und die Wirbel waren verschwunden.

Neugierig blickte ich mich um. Wir waren in einer großen Halle gelandet. Bis an die Decke erstreckten sich riesige Regale, vollgestopft mit einem wilden Durcheinander aus Trachtenkleidung, Blasmusikinstrumenten, Holzfiguren, Skiausrüstungen, Nordic-Walking-Equipment, Wellnessbroschüren, Kuhglocken mit Vornamen und Unmengen anderem Plunder, wie man ihn zur Saison an allen Ecken und Enden findet.

„Wo sind wir hier?“

„Wir befinden uns im Zentrum, werter Herr Schriftsteller.“

„Im Zentrum?“

„Ja, im Zentrum der Tourismusindustrie. Wir wurden vom leitenden Gremium damit beauftragt, dich herzubringen.“

„Aber warum das denn?“

„Um den Winter zu retten.“

Gerade als ich damit beginnen wollte, diese Aussage zu hinterfragen, hörte ich ein Geräusch. Es begann wie ein leises Trippeln und steigerte sich rasch zu einem immer lauter anschwellenden Trappeln, bis schließlich der Hallenboden bebte.

Wie eine Sturmflut ergossen sich Scharen von kleinen Wichteln in die Freiräume zwischen den Regalen, kletterten und hangelten sich an ihnen entlang, hüpften übereinander hinweg, bis sie schließlich, einer versandenden Welle gleich, vor uns zum Stehen kamen.

Eine Wichtelfrau in einem weißen Kleid und eindrucksvollen Zöpfen, die zu beiden Seiten ihres  Kopfes aufgerollt waren,  trat vor und verneigte sich vor mir:

„Helft uns, „Oben-Mann“. Ihr seid unsere letzte Hoffnung!“

„Äh, gerne, aber wie?“

„Frau Holle wurde in ihrem Schloss angegriffen. Um sich zu schützen, hat sie sich in einen tiefen Schlaf versetzt, der um sie herum die Zeit angehalten hat. Doch leider kann sie nun nicht mehr aus eigener Kraft erwachen und die Kraft des Zaubers lässt nach. Nur wenn ein Mann aus eurer Welt ihr ein bewegendes Gedicht vorträgt, kann sie die Belagerung beenden und der Winter kann endlich im Allgäu Einzug halten.

Ihr müsst euch beeilen, der Ruf unserer Branche steht auf dem Spiel! Die ganze Region könnte nachhaltig geschädigt werden.“

„Klingt nach einem interessanten Auftrag, aber warum gerade ich?“

Die Oberwichtelin zog einen zerknitterten Zeitungsausschnitt aus den Tiefen ihres Gewandes hervor und hielt ihn mir vor die Nase.

„Ein Weckruf, den Frau Holle nicht überhören kann!“, lautete die Überschrift. Ich überlegte kurz. Dann fiel es mir wieder ein. Ganz zu Beginn meiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte ich an einem Poetry-Slam in Hinterstein teilgenommen. Ich hatte über mein dringendes Bedürfnis nach weißen Winterferien und einer guten Snowboardsaison gedichtet. Insgesamt waren nur drei Teilnehmer an den Start gegangen. Meine Konkurrenz hatte aus einem Bergbauern, der Heimatgedichte in so starkem Dialekt vortrug, dass ihn selbst die Hintersteiner kaum verstanden und einer Grundschülerin, die um ihr krankes Kälbchen weinte, bestanden. Haarscharf hatte ich das Rennen für mich entschieden und ein fleißiger Redakteur des Kreisboten hatte sich dazu berufen gefühlt, diese Lobeshymne auf mein Gedicht zu schreiben. Irgendwie mussten sie die freien Plätze zwischen der Werbung ja füllen. Doch wie man jetzt sah, geht Werbung oft eigentümliche Wege und ich stand nun kurz davor, diesen Wichtelauftrag an Land zu ziehen. Mein Geschäftssinn war geweckt.

„Was bekomme ich denn von Euch, wenn ich den Auftrag ausführe?“

„Dann darfst Du dir etwas aus unserem Sortiment  aussuchen und behalten.“

Ich sah mich um. Für eine Tuba oder eine moderne Skiausrüstung würde ich sicher einiges bekommen. Abgesehen davon wusste ich auch nicht, ob man mich aus diesem Zauberland einfach so wieder gehen lassen würde, wenn ich mich weigerte.

„Also gut, ich bin dabei“, verkündete ich. „Aber ich wüsste vorher noch gerne, wer ihr seid.“

„Wir“, hob die Wichtelmatrone an, „Wir sind die, die man einst „Venediger“ nannte. „Venediger Männlein“ war auch ein gebräuchlicher Ausdruck. Interessant, da wir seit jeher eine matriarchalische Gesellschaft sind, die die Grenze der Emanzipation schon überschritt, als die Menschheit noch lange nicht reif dafür war.“ Man hörte ein lautes zustimmendes Murmeln und ein leises Wehklagen, das wohl aus den Kehlen der zwangsemanzipierten Männlein stammte. „Wir lenken die Geschicke des transalpinen Tourismus bereits seit dem Jahre 1481. Also lange bevor er überhaupt als das zu erkennen war. Wir haben das ganze Konzept erfunden. Von der Schaukäserei über den Tirolerhut, bis hin zum Schuhplatteln. Wir sind unübertroffen darin, das Primitive im menschlichen Gehirn anzusprechen und zu vermarkten. Was glaubt ihr denn, wer die CSU… .

Egal, dass tut jetzt nichts zur Sache. Wichtig ist, dass der Schnee fällt und der Rubel wieder rollt. So macht euch also auf den Weg um Frau Holle zu erwecken und den Winter ins Allgäu zu holen. Unser Dank ist euch gewiss.“

„Wie komme ich denn zum Schloss von Frau Holle?“

„Das ist kein Problem, wir werden euch eine unserer ortskundigen Führerinnen zur Seite stellen.“

Die Oberste der Venediger wedelte gebieterisch mit der Hand und so schnell wie sie gekommen waren, verflüchtigten sich die Wichtel wieder in den Weiten der Lagerhalle. Zurück blieb ein etwas verschüchtertes Männlein mit einem verstrubbelten Bart und einem von Gram zerknitterten Gesicht.

“Folgt mir“, nuschelte er und machte sich auf den Weg.

Trotz seiner kurzen Beine und dem eigenartigen Gang, bewegte sich das Venediger Männlein mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit fort. Ich musste mich anstrengen um Schritt zu halten. Hauptmann Filleböck hoppelte fröhlich hinterdrein und Malcom schwebte entspannt neben mir her. Mein Gehirn hatte mittlerweile vor den ganzen Unmöglichkeiten kapituliert und behandelte die Ereignisse als selbstverständlich.

Wir liefen durch unzählige Gänge mit  verwinkelten Abzweigungen und einer Vielzahl von Lagerräumen, die dem Zentrum des Tourismus an Größe durchaus ebenbürtig waren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hielten wir vor einer massiven Stahltüre an.

„Ab hier wird euch eure Reiseführerin weiter begleiten,“ sagte das Männlein und war mit atemberaubendem Tempo verschwunden.

Die Tür öffnete sich langsam mit einem markanten mechanischen Zischen. Offensichtlich eine Luftschleuse. Dampf waberte hervor und durch den Nebel zeichnete sich undeutlich eine weibliche Silhouette ab.

Eine junge Frau, attraktiv, mit blonden Zöpfen und ein paar Sommersprossen, ungefähr Mitte Zwanzig, trat auf uns zu. Sie nahm meine Hand und schüttelte sie. „Grias di, i bin d Vroni“, stellte sie sich vor.

„Moment, ich kann diesen einprogrammierten Tourismusakzent echt nicht ertragen. Ich schalte sie schnell auf Hochdeutsch um“, sagte Malcom und drückte ihr an eine Stelle hinter den Nacken.

„Konichiwa!“, drück „Hey guys!“, drück „Buenas dias, amigos!“, drück „Guten Tag!“

Zufrieden ließ der Schotte die junge Frau los und gesellte sich wieder zu uns.

„So. Die Werkseinstellung ist immer auf „touristenfreundliches Allgäuerisch“ gesetzt. Ein furchtbares Kauderwelsch!“

„Moment mal, ist Vroni etwa ein Roboter?“, fragte ich verständnislos.

„Aber natürlich, Jungchen. In der Tourismusbranche arbeiten seit Jahren nur noch Roboter. Den Stress hält doch kein Mensch aus.“

Entgeistert sah ich Vroni an. Sie wirkte vollkommen menschlich. Sie atmete sogar.

„So,dann wollen wir mal zu Frau Holle“, flötete unsere Reiseführerin.

Unter der fachkundigen Führung von Vroni durchquerten wir die wunderlichsten Landschaften wie „Den Friedhof der Rentiere“, eine gigantische Müllhalde voller kitschigem Weihnachtsschmuck. „Das Tal des Brauens“, eine trostlose Landschaft mit lallenden Bierleichen und Werbefiguren, über denen ein leicht untergäriger Geruch lag. Wir durchschwammen das „Wellness Valley“, wo Milch und Honig flossen und umgingen die „Costa del Soll“ vor der sich  Schwärme vollgefressener Finanzhaie tummelten. Mit unbeirrbarer Ruhe wies sie uns den rechten Weg, lockerte die Stimmung mit ein paar harmlosen Scherzen auf und wies uns auf die Schönheit einzelner Landschaftsabschnitte hin.

Endlich gelangten wir erschöpft an das Schloss. Rund um unser Ziel hatten sich  Horden von Heuschrecken versammelt, angeführt von amerikanischen Investmentbankern, die die letzte Bastion des Winters mit Schneekanonen beschossen. Sie alle standen wie festgefroren. Der Zauber von Frau Holle hatte sie in ihren Bann gezogen. Unter der fachkundigen Führung von Malcom, der sich als absoluter Fachmann für antike Gemäuer erwies, fanden wir schnell das Gemach, in dem Frau Holle ihren Dornrößchenschlaf schlief.

Ihr Gesicht wirkte alterslos. Schön, aber irgendwie kühl.

„Sodenn, werter Herr Dichter“, sagte der Wolpertinger. „Du hast mit uns den widrigen Gefahren des Weges getrotzt und dich als fähiger Abenteurer und Held erwiesen. Nun zeige uns denn die Macht deines Handwerks, damit die werte Frau Holle aus ihrem Schlaf erwache!“

„Genau, Jungchen, zeig der Guten, was ein Mann unter dem Kilt hervorzaubern kann!“, feuerte mich Mc Lanrich an.

„Du machst das sicher ganz toll, ich glaube an dich“, motivierte mich Vroni.

Ich stellte mich gerade hin, räusperte mich theatralisch um mich mit den leuchtenden Federn meines Handwerks zu schmücken und…

…blieb stumm.

Meine Begleiter sahen mich erwartungsvoll an.

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.

Verdammt, gerade jetzt, dachte ich mir. Warum hatte ich mir auf dem Weg hierher nur keine Notizen gemacht?

Die Blicke meiner drei Freunde weilten immer noch voller Spannung auf mir.

Mir fielen noch nicht einmal die richtigen Worte ein, um ihnen zu erklären, dass ich gerade eine Schreibblockade hatte.

Malcom schien als erster zu begreifen, was mit mir los war:

„Dem Jungchen hat’s die Sprache verschlagen!“

„Äh,Moment, nur noch einen Augenblick, ich muss erst etwas aufsetzen. Hat jemand von euch was zu Scheiben dabei?“ Oh Mann, war das peinlich.

Vroni reichte mir Stift und Block aus ihrer patentierten Reiseleiterinnen-Survival-Handtasche.

„Jungchen, beeil dich! Ich spüre, dass der Zauber über die Belagerer schwächer wird“,mahnte der Geist.

Unverzüglich setzte ich mich hin und begann zu schreiben. Zumindest versuchte ich etwas, das dem nahe kam.

„Olle, Olle, Baby, Holle, schick uns Schnee und zwar ganz dolle…“

Ne, man weckt eine personifizierte Urgewalt doch nicht mit einer schlechten Imitation von Gangsterrap. Ich strich diesen Anfang demonstrativ wieder durch.

„Wir haben keine Zeit“, drängte Hauptmann Filleböck. Jeden Augenblick können die Angreifer aus ihrem Schlaf erwachen und dann versinkt das Allgäu in einem Meer von Kunstschnee!“

„Oh Frau Holle, hab doch Mut, damit der Schnee schön fallen tut, denn dann wird alles wieder gut und wir müssen nicht leben in Wut.“

Auweia, veränderter Satzbau und schlechte Sprache, das holte niemand hinterm Ofen vor.

Langsam wurden auch meine Finger klamm.

„Ich glaube an dich“, sagte Vroni, lächelte und gab mir einen flüchtigen Kuss.

Und dann geschah es.

Der Knoten war geplatzt und die Kreativität durchströmte mich. Der Kuss der Muse hatte meine Zweifel zerstreut und mich in den richtigen Zustand versetzt. Wie besessen kritzelte ich das Gedicht auf den Zettel, verbesserte nur noch ein paar Kleinigkeiten und war bereit.

Das war auch dringend nötig, denn von Außen drangen bereits erste Stimmen zu uns herein.

Ich warf mich in Pose und ließ meine geübte Dichterstimme erklingen. Magie erfüllte den Raum und berührte die Herzen und Seelen der Anwesenden. Ich hatte es geschafft. Ich hatte die Saite zum Klingen gebracht, die uns Alle mit der Kunst und der Liebe verbindet.

Licht durchflutete den Raum und die Luft vibrierte. Frau Frau Holle begann zu erwachen.

„Schnell, wir müssen uns verabschieden“, rief Cornelius. „Wir können der Kraft des Winters nicht standhalten!“

„Sag mir noch deinen Wunsch, raunte mir Vroni zu, ich werde ihn den Venedigern mitteilen.“ Ich flüsterte ihn ihr zu.

Dann murmelte Malcom irgendetwas gälisches vor sich hin. Vor mir drehte sich Alles und die Welt verschwamm. Ich hörte nur noch ein dreistimmiges „Auf Wiedersehen!“ und ein durchdringendes „Danke“, bei dem es mir kalt den Rücken herunter lief.

„Herr Confusione!“ ein leichtes Rütteln an der Schulter. „Herr Confusione!“

„Ja, was ist?“, fragte ich nuschelnd und schlug die Augen auf.

Vor mir stand ein freundlich wirkender Mann in einem eleganten Anzug.

„In zehn Minuten fängt ihre Lesung an. Ich dachte mir, dass ich sie jetzt lieber wecken sollte.“

„Danke, das ist sehr nett von ihnen.“

„Gern geschehen.“

Während ich mich langsam im hier und jetzt zurechtfand, war er bereits verschwunden.

Noch etwas benommen schlurfte ich durch die Gänge des Hotels um die Lesung zu halten. Das Gedicht sang immer noch sein Lied der Schönheit in meinem Kopf und ich beschloss, es dem Publikum zum Abschluss der Lesung vorzutragen. Ein wahrer Gewinner hat schließlich immer noch ein Ass im Ärmel.

Ich war in meine Gedanken so vertieft, dass ich weder den ausgestopften Wolpertinger, noch das Portrait des hochgewachsenen Schotten bemerkte, die ich auf meinem Weg passierte.

Vor einem Fenster blieb ich kurz stehen und sah nach draußen. Erste Schneeflocken begannen zaghaft vom Himmel zu rieseln.

„Was tut man nicht alles für die Heimat?“, dachte ich mir.

Da schob sich von hinten eine weiche Hand in die meine und drückte sie liebevoll.

„Grias di“, hauchte eine wohlmodulierte Stimme in mein Ohr.

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