Fallen lernen
Da sitze ich Dir nun gegenüber, auf diesem unbequemen Bürostuhl vor Deinem Schreibtisch mitten in unserem imaginären Vorstellungsgespräch. Falls ich vor Deinem kritischen Auge bestehe, eröffnen sich mir neue Chancen, werden meine Träume ein Stück realer. So bilde ich es mir zumindest ein. Um meine Eignung festzustellen, hast Du Dir zusammen mit den Kollegen eine Frage ausgedacht, die ich Dir jetzt so beantworten soll, dass sie Dir gefällt. Du stellst sie allen, die in dieser Angelegenheit in diesem Semester bei Dir antanzen. Und ganz ehrlich: Ich finde sie in dieser Form saudumm gestellt!
Wie lernt man Fallen?
Als ob man das Fallen irgendwie lernen könnte…
Du fällst von ganz alleine! So einfach ist das. Ob Du jetzt dieser doofe und dauernd zitierte Apfel bis, der Newton damals auf den Kopf gedonnert ist, oder dieser andere bekannte Apfel, der jetzt an der Flasche hängt, weil sein Vater auch schon Säufer war. Oder schau Dir den Penner an, der da verlottert durch die Straße schwankt, weil so eine blöde, arrogante Kuh ihm vor 20 Jahren das Herz gebrochen hat, als er noch ein hoffnungsloser Romantiker war. Oder die Fünfzehnjährige, die sich gerade die Spritze in die Vene rammt, weil ihr Lieblingsonkel, als sie acht war, ihr etwas Anderes reingerammt hat und ihr Keiner glauben wollte. Die haben Nichts lernen müssen, um zu fallen, denen ist das einfach passiert.
Das geht ruckzuck in unserer schönen neuen Leistungswelt aus Glitter, Supermodels und Imodium® Akut. Wenn Du nicht von alleine fällst, dann helfen Dir auch gerne jede Menge Institutionen dabei. Nur weil Du nicht so ein rückgratloser Typ bist, der durch jedes verdammte Raster der Gesellschaft passt, bis er nichts weiter ist, als eine formlose, schleimige Masse in Reih und Glied mit einer unendlichen Legion von Zombieklonen, kannst du schnell mal straucheln.
Bist Du überhaupt schon einmal gefallen? So richtig tief? Weißt Du wie das ist, wenn Dich auf einmal der Abgrund verschlingt?
Stell Dir vor, Du hast ein kleines, schmutziges Geheimnis. Etwas nach dem Du süchtig bist. Ohne es wirklich zu merken hast Du es Dir eingefangen und es fängt an Dich zu beherrschen. Du willst es nicht, weißt dass es falsch ist, es ist verboten, es kann Dein ganzes bisheriges Leben ruinieren, aber Du kommst nicht davon los. Es gibt auch Niemanden mit dem Du darüber reden kannst, so sehr Du Dir das auch wünschst – Und dann: Eines beschissenen Alltagsmorgens um 7 Uhr Früh klingelt es an der Tür. Die Polizei steht davor und dank des Zettels, den sie dabei haben, musst Du sie auch herein lassen, wenn Dir Deine Wohnungstür lieb ist. Während sie sich durch jedes noch so kleine und intime Detail Deines Lebens wühlen, jagt Dich Dein Puls auf die hohe Klippe der Angst, von der sie Dich im Anschluss werfen werden.
Und dann mein Freund, dann lernst Du, was Fallen bedeutet:
Am Anfang fühlt es sich Alles noch total unwirklich an. Die Zeit im Verhörzimmer, wenn Du endlich Jemanden zum Reden hast und gleichzeitig weißt, das Dich das Kopf und Kragen kostet. Wenn Du irgendwie weißt, dass Du gerade den Halt unter den Füßen verloren hast und jetzt Alles den Bach runter geht. Aber noch läuft das seltsamerweise in geregelten Bahnen. Du verlässt die Wache und gehst zur Arbeit. Funktionierst. Aber Dir ist klar, dass sie Dich gefickt haben. Weißt nur noch nicht wie schlimm und was Du nun tun sollst. Dann kommt der Moment in dem Dich Dein Chef ins Büro zitiert. Der Polizist hat nicht gelogen, als er Dir versichert hat, dass er Deinem Arbeitgeber Nichts von der Angelegenheit erzählen würde. Nur hätte er vielleicht erwähnen können, dass die Staatsanwaltschaft das auf jeden Fall tun wird…
Dein Job ist jetzt Geschichte. Da Du in einer Dienstwohnung gelebt hast, sitzt Du natürlich gleichzeitig auf der Straße. Aber das reicht noch lange nicht. Ohne Stelle und mit laufendem Verfahren kannst Du Dich auch von Deiner Berufsschule verabschieden, sowie von fast drei Jahren Ausbildung. Eben noch eine gesicherte Existenz, innerhalb von drei Wochen Alles weg. Versuch mal eine neue Arbeit mit einem Eintrag im Führungszeugnis, ohne Wohnung und ohne Ausbildung zu bekommen, während gute Chancen bestehen, dass Dich die Angelegenheit innerhalb des nächsten Jahres auch noch in den Knast bringt.
Klar war Dir das Risiko immer so im hintersten Eckchen Deiner Gehirnwindungen bewusst, aber Du hättest doch nie gedacht, dass es Dich wirklich trifft.
Hat es aber!
Du fällst. Und zwar tiefer als je zuvor. Du greifst nach Strohhalmen. Freunde, gute Freunde. Kennst sie seit Jahren. Ihr habt Euch immer geholfen. Egal wie groß die Probleme waren. Doch jetzt sehen sie Dich mit Abscheu an, drehen sich weg, gehen nicht ans Telefon. Ach genau, Deine Freundin, mit der Du seit zwei Jahren zusammen warst und mit der Du das Schlimmste, was Dir bisher je widerfahren ist, gemeinsam durchgestanden hast, für die Du immer da gewesen bist, Sie gibt Dir dann auch mal lieber den Laufpass. Das ist ihr jetzt doch zu stressig.
Irgendwann, nach ein paar Wochen mehr, schlägst Du dann nach dem Fall irgendwo in einer Notabsteige auf dem harten Boden der Realität auf und bist allein. Zerbrochen. Aber seltsamerweise noch am Leben.
Willst Du mir jetzt echt verklickern, dass man das lernen kann?
Manchmal kannst Du noch nicht mal lernen, wie Du gut aufkommst. Aber genau an diesem Punkt. Am Ende. Nach dem Fall. Da kannst Du wirklich was lernen. Nämlich das Aufstehen. Das Zusammenkehren der Scherben und das Weitermachen.
Warum Du gefallen bist und wie tief, oder aus welcher Höhe, das ist egal. Natürlich tut es mal mehr weh, und mal weniger. Aber es gibt ganz klar Methoden, die Dich dazu bringen, dass Du wieder aufstehst und weiter machst:
Erstmal brauchst Du in Dir ein Ja. Ein Ja zu Dir selbst und ein Ja zum Leben. Das kann ein ganz kleines Stimmchen sein. Kaum zu hören unter all den Trümmern des Falls. Aber irgendwo muss es noch da sein. Und das musst Du suchen. Bis Du wirklich wieder spürst, dass in Dir ein Wille ist, der Dich antreibt. Etwas das Dir sagt, wofür es sich lohnt weiter zu machen. Und dann musst Du diesem Ja Nahrung verschaffen. Es stärken und fördern. Glaube ist hier sehr hilfreich. An Irgendetwas glaubt jeder Mensch. Das ist schon mal gut. Du solltest nur prüfen, ob Du an gute Dinge glaubst. An Etwas, dass Dir wirklich hilft, Dich stark macht, denn der Hass auf Andere oder Schuldzuweisungen sind nicht hilfreich. Dadurch machst Du Dich klein. Wem Du die Schuld gibst, dem gibst Du die Macht. Nur wenn Du Deine Verantwortung annimmst, die Dich in diese Situation gebracht hat, kannst Du sie auch verändern. Übe Dich im Verzeihen. Dir selbst und den Anderen gegenüber. Es lebt sich so viel leichter, wenn Du im Frieden bist. Schaffe Dir Ressourcen. Freue Dich so oft es geht an den kleinsten Dingen, die Dir begegnen. In ihrer Summe entfaltet diese Freude eine gewaltige Kraft. Setze Dir Ziele. Kleine und große, damit Du eine Richtung im Leben hast. Aber ärgere Dich nicht, wenn Du sie nicht erreichst, oder sie änderst. Lass los, folge Deiner inneren Stimme und vertraue in die Weisheit des Lebens. Viele Ziele, insbesondere wenn sie etwas ungewöhnlicher sind, brauchen ihre Zeit. Gib Deine Träume nicht auf, sondern arbeite daran, schleife sie an den Kanten des Lebens und sie werden sich erfüllen.
Ja, das klingt vielleicht ziemlich esoterisch. Das gebe ich gerne zu. Aber weil ich daran glaube und genau das lebe, stehe ich heute hier vor Dir. Bin nicht nur gefallen, sondern auch wieder aufgestanden. Ich werde noch viele Bücher schreiben und veröffentlichen. Ganz egal, ob Du mich jetzt mit in den Kurs nimmst, oder nicht. Aber gemeinsam wird es vielleicht sehr viel spannender…